Wann ist Deutsch hier aufgekommen?

Clau Soler
Clau Solèr

Früher redeten die Rätoromanen auch zu Hause manchmal Deutsch, damit die Kinder später in der Schule keinen Nachteil hätten. Das war eine gescheite Idee.

Familie Casanova in Vrin
Familie Casanova in Vrin © W. Derichsweiler, Fototeca dal DRG

Da gab es in Lumbrein eine Familie, da hatten die Eltern mit den Kindern zu Hause Schweizer-Deutsch gesprochen. Das ging gut, bis die Kinder in der Schule Hochdeutsch lernten. Da kamen sie nach Hause und sagten den Eltern “ihr könnt nicht gut Deutsch”. Ich finde es eine gute Idee, wenn Romanisch sprechende, die ins Unterland (Schweizer Mittelland)  ziehen, weiterhin mit ihren Kindern Romanisch reden. Ich habe letzthin eine Familie getroffen, die hier in den Freien war und zu den Kindern sagte “jetzt sind wir hier in den Ferien, jetzt reden wir nur Romanisch”. Man merkte, die Mutter ist eine Romanin und sie zieht das auch im Unterland so durch. Das finde ich super. Es gibt allerdings auch die andere Variante, wo beide Elternteile Romanisch sprechend sind und die Kinder kein Wort Romanisch verstehen. Das finde ich sehr schade. Das hat aber auch einen Hintergrund. Leo Weissgerber, ein Philosoph, hatte gesagt: “Wenn man zwei Sprachen hat, dann hat man keine Sprache mehr und das führe zu geistiger Verdummung”.

Wenn wir schon bei diesem Thema sind. Wann ist Deutsch hier aufgekommen? Ich habe gelesen, dass früher nicht alle hier Deutsch konnten?

Schule im Val Sumvitg
Schule / Scola © Archiv Cultural Sumvitg

Das brauchte es auch nicht. Also, in der allgemeinen Dorfschule oder obligatorische Schule, die begann 1850. Damals hatte man zwei bis drei Jahre Schule, später dann sechs bis sieben Jahre. Da hatte man immer mehr Schule. Zuerst Romanisch und mit der Zeit hatte man dann auch Deutsch in der Schule unterrichtet und zwar immer mehr und recht intensiv. So um 1850/60 dachte man, wenn man kein Deutsch könne, hätte man keinen wirtschaftlichen Erfolg. Da war dann die Selektion gross und es hiess bald: “Ja, der kann nicht so gut Deutsch, der kann nicht auswärts arbeiten gehen. Der kann Bauer werden und zu Hause bleiben. Man wurde über die Sprache verglichen. Die Berufsaussichten waren direkt von den Deutschkenntnissen abhängig. Wenn jemand kein Deutsch konnte, hatte er praktisch keine Chance. Später hat man dann festgestellt, dass das zum Teil zur Germanisierung führte, an Orten, die an sich Romanisch sprachig gewesen wären. Es wurde quasi beschlossen, dass man alles auf Deutsch mache, damit man bessere Berufschancen hätte. Wir sprachen aber keinen Schweizer Dialekt, sondern mit 12, 13 Jahren haben wir Standard Schriftsprache (Hochdeutsch) gesprochen. Erst wenn wir dann irgendwo auswärts arbeiten gingen, haben wir Dialekt gelernt. Die um 1920 bis 1930 Geborenen, die haben zum Teil noch in den letzten Jahren eine Art Standard Deutsch, in etwas abgenützter Form, gesprochen. Das wird dann “das Deutsch der Romanen” genannt. Aber das kann man fast nirgends mehr aufnehmen, das gibt es kaum noch. Die meisten können heutzutage perfekt Schweizer Deutsch. Aber in der Sekundar- oder Berufsschule waren die Romanen nicht schlecht im Deutschen. Die Grammatik hatten sie viel besser gelernt als die Deutsch sprechenden. Die Syntax war etwas holperig, man hat mehr oder weniger übersetzt oder kopiert. Heutzutage, wenn man Oberländer oder Engadiner Deutsch sprechen hört, muss man schon genau hinhören, um unterscheiden zu können. Ich merke bei den Sursilvanern (Bündner Oberland), ob sie aus dem Lugnez kommen oder von der Cadi (Gebiet der oberen Surselva) aber das setzt voraus, dass ich ein paar Regeln kenne. Zum Beispiel im Lugnez haben wir die Vokale halblang. Deshalb sagen wir “ein Staal” (Stall mit langgezogenem «a») und das harte Metall ist auch “Stahl” und die Aussprache ist fast gleich.

In der Cadi gibt es kurze Vokale und lange. Deshalb kann es möglicherweise sein, dass das hier “ein Stahl” ist (Stall) und etwas Hartes ist vielleicht aus “Stall” gemacht (Stahl). Diejenigen aus der Cadi (Gebiet der oberen Surselva) oder Vorderrheintal lassen das “R” rollen, die Lugnezer weniger. Die Engadiner, wenn sie Deutsch sprechen, haben sie eine sehr sorgfältige Artikulation, ein Bisschen wie wenn sie Standard Italienisch sprechen würden. Das hört man eindeutig. Es ist etwas sorgfältiger ausgesprochen. Aber da sind Nuancen und die sind überhaupt nicht bei allen vorhanden. In den Siebzigerjahren habe ich Sprachaufnahmen gemacht und damals habe ich das Deutsch in Lumbrein untersucht und die haben St. Galler Deutsch gesprochen, zwei Frauen. Das war Normal. Sie hatten in der Schule Standard Deutsch “tudestg da scartira” wie wir sagten, also das geschriebene Deutsch. Dann sind sie nachher als junge Mädchen in St. Gallen bei Verwandten gewesen. Andere wuchsen mit dem Zürcherischen auf. Andere, die bereits in zweiter Generation im Unterland sind, reden immer noch Bündner Deutsch. Das sind die sprachtreueren Personen, die sorgfältiger mit der Sprache umgehen.