Die Konzession für das Kraftwerk in Zerfreila wurde 1948 erteilt. Ich war damals erst 13jährig und konnte noch nicht mitbestimmen.In der Zeit als Hüterbub bei „Ds Hubertsch“(Verwandte der Familie Hubert) entstand eine besondere Beziehung zu Zerfreila, zum Dörfchen und zum Tal. Ich erinnere mich: Mein Kamerad Josef und ich wohnten im gleichen Haus und schliefen sogar im selben Bett; die Familien teilten sich den Wohnraum.
Ich habe heute noch Bilder in mir, die einen starken Eindruck hinterliessen: Das Bild vom Zerfreilahoora (Zerfreilhorn), wenn nachts der „Maana“ (Mond) aufging und neben dem Hoora hervorguckte. Das Bild des Schattens, den das Hoora fast bis ins Dörfchen warf … Das war etwas, was wir damals nur bewundern konnten; wir konnten es noch nicht in Worte fassen.
Unsere Familie hatte immer schon etwas Land in Zerfreila. Mein Vater konnte dann später auch noch ein Haus mit etwas Umschwung kaufen. So konnte ich meine Beziehung zu Zerfreila noch ausbauen. Zerfreila ist mir im wahrsten Sinne des Wortes ans Herz gewachsen und ich habe nie verstanden, dass man Zerfreila verkaufen kann. Ich machte dann einen Versuch, dies zu verhindern. Mit meinem Kameraden Josef war ich – auch während der Schulzeit – immer wieder mal in Zerfreila. Wir kannten alle Örtlichkeiten ein- und auswendig, es war für uns eine Gegend, die man nicht anrühren durfte, sie war sozusagen Gott gegeben. 1947 war ich wieder mal in Zerfreila. Mich beschäftigte die Frage: Wie kann man verhindern, dass Zerfreila im Staussee untergeht? Beim Gufer-Türli hatten nämlich Arbeiter bereits Sondierstollen gebaut. Ich stand vor einem solchen Sondierstollen und erblickte ein paar Eisenpfähle, die bereits in den Fels eingelassen waren. Im Dorf hatte ich gehört, man wollte mit diesen Stollen prüfen, ob der Fels ruhig bleibe oder sich verändere. Moment, dachte ich, wenn ich diese Eisenpfähle verändere, dann könnte man zum Schluss kommen, der Fels, wo die Staumauer zu stehen kommt, sei nicht ruhig. Gesagt – getan! Ich holte mir einen grossen Stein und schlug mit ihm über die Eisen, bis sie ihre Lage etwas veränderten. Dann verliess ich den Ort und freute mich innerlich über meine gute Tat. Es hat dann leider nichts genützt, aber es war ein weiteres Zeichen, dass die Beziehung zu Zerfreila sehr tief gegangen war.
Nach dem Bau der Staumauer ging ich bis auf den heutigen Tag nicht mehr gerne nach Zerfreila. Es ist nicht mehr der Ort, wie ich ihn erlebt hatte. Ich will mir die schönen Bilder nicht total zerstören lassen. Das ist die emotionale Seite. Nachher kommt die wirtschaftliche Sicht: Was wäre Vals ohne Kraftwerk? In diesem Sinne musste man selbstverständlich das Opfer bringen. Wenn man in Vals eine gewisse Entwicklung ermöglichen wollte, ging es gar nicht anders. Das Dorf brauchte finanzielle Mittel, die nicht vorhanden waren. So war es ein klarer Fall. Das anerkenne ich heute schon. Man muss die beiden Ebenen – die emotionale und die wirtschaftliche – voneinander trennen. Für mich bleibt Zerfreila sehr emotional. Wenn ich vom Standort der neuen Kapelle aus in den See schaue, kommt es mir vor, wie eine Schändung der Landschaft, die nie wieder gut zu machen ist. Jeweils am St. Bartholomäus Tag (24. August), wenn in der Kapelle Zerfreila Gottesdienst gefeiert wird, dann kommen die Emotionen immer wieder hoch.
Übrigens: Mein Vater stimmte auch dafür. Er sah im Kraftwerkbau eine Entwicklung, die auch ihm Arbeit im Dorf brachte. Bis zu diesem Zweitpunkt ging er saisonal ins Hotel. Mit gut 50 Jahren wollte er sich bei der Familie eine Existenz aufbauen. Er betrieb Viehhandel und baute sich eine kleine Landwirtschaft auf. Zudem konnte er Land an die Kraftwerke verkaufen, welches auch etwas Geld gebracht hatte. Ich meine, er hätte keine so tiefe Beziehung zu Zerfreila gehabt wie ich.