Das ist eine ganz eigene Geschichte. Sie geht zurück auf das Jahr 1910. Damals bestand das Haus nur aus einem Stockwerk, wo sich heute noch der Laden befindet. Es gehörte Andreas Schnider. In einem kleinen Zimmer hatte er auch Fotos entwickelt. Zudem war er auch als Coiffeur tätig. Mein Vater konnte dann das Haus mit dem Laden kaufen. In der ersten Zeit wohnten meine Eltern noch in der Gassa. Mein Vater ging ins Hotel und meine Mutter hielt den Laden tagsüber für ein paar Stunden geöffnet. 1932 wurde dann das Haus um ein Stockwerk erhöht. Die Familie hatte fortan den Wohnsitz im Haus bei der Brücke. Für meine Mutter, die den Laden weiterführte, verbesserte sich die Situation dadurch deutlich.
Für mich waren die Erfahrungen mit einem Laden im Wohnhaus nicht besonders positiv. Der Laden im Parterre war eigentlich immer geschlossen. Kunden und Kundinnen mussten läuten. Darauf bediente meine Mutter Käuferinnen und Käufer fast zu jeder Tages- und Nachtzeit. Sie sprang weg, auch wenn sie beim Kochen oder einer andern Hausarbeit war. Dadurch wurde das Familienleben immer wieder gestört. Auch Gespräche am Mittags- und Abendtisch wurden immer wieder unterbrochen. Es hiess dann immer: Ich muss geschwind in den Laden hinunter. Für unser Familienleben war diese Situation gar nicht förderlich gewesen.
Auf der anderen Seite hatte der Laden auch eine soziale Komponente gehabt. Leute trafen sich und redeten miteinander über Dinge, die im Dorf vorgefallen waren und anderes mehr.
Im Laden selber verkaufte meine Mutter Textilien, Wolle, Raucherwaren, Drogeriewaren, Schokolade, Medikamente (Pulver, Tee …) Im Verlaufe der Jahre änderte sich das Sortiment auch. Im südlichen Teil des Ladens standen zwei Tische mit Stühlen für Gespräche und Jassen (Schweizer Kartenspiel). Das Benutzen dieses Teils war an bestimmte Abläufe gebunden. Am Sonntag nach der Messe besuchten die Jungmänner (16 bis 20jährige) das „Buudeli“, wie man das Lokal im Dorf auch nannte. Meine Mutter bestellte nämlich jeden Samstag bei der Bäckerei Klee in Ilanz zwei Schachteln voll „Stückli“ (Patisserie) und Mohrenköpfe. Ich musste sie jeweils auf der Post abholen. Die Jungmänner assen diese „Stückli“ rübis und stübis (Dialekt: die Stücke wurden restlos aufgegessen) und diskutierten nebenbei auch miteinander. In ein Restaurant gingen sie in ihrem Alter noch nicht. Für die Jungmänner war „ds Buudeli“ der wichtige Ort für ihre Zusammenkunft.
Am Samstagabend und Sonntagnachmittag haben gestandene Männer an den zwei Tischen gejasst. Unter der Woche hatten auch Frauen an diesem Ort die Möglichkeit zum „Bläderä“ (miteinander reden). Serviert wurde anfangs gar nichts, erst später verkaufte dann meine Mutter etwas zum Trinken (Orangina …) Es war eben kein Restaurant; dafür hätte man das Wirtepatent haben müssen.
Ds Buudeli war ein wichtiger Treffpunkt, wo über verschiedene Vorkommnisse im Dorf geredet und ausgetauscht wurde. Im ganzen Lokal hatten ca. 30 Personen Platz. Sie konnten stehend oder sich bewegend diskutieren; die beiden Tische waren streng für die Jasser reserviert. In dieser Phase hatten sich die Leute noch offen geäussert zu verschiedenen Dingen; die Auseinandersetzung konnte voll stattfinden. Ganz im Gegensatz zu heute, wo sich die Dorfbewohner/innen nicht mehr getrauen, offen über Dorfangelegenheiten zu reden. Damals wagten die Leute, ihre Meinung zu sagen. Deswegen hat man anderntags gleich wieder allen „guten Tag“ gesagt. Für die politische Auseinandersetzung war „ds Buudeli“ enorm wichtig. Bewohner/innen von Vals hatten es total positiv angesehen.
Die Jugendlichen hatten während des „Stückli-Essens“ regen Gedankenaustausch über Gott und die Welt, meistens über Skifahren und Skirennen.
Die Bauern hatten Gelegenheit über ihre Tiere und den Lauf der Zeit zu reden. Auch Pfarrer Hemmi, ein Bauernsohn aus Churwalden, kam regelmässig zum Jassen, und mischte sich immer auch in die Gespräche der Bauern ein. Auch über den Kauf von Zuchttieren für die Genossenschaft redete er tüchtig mit. Wieder einmal wurde über einen Zuchtstier verhandelt. Auch Pfarrer Hemmi äusserte seine Meinung, machte sich nachher auf den Heimweg. Ein Bauer wagte dann die Bemerkung: „Was will eigentlich der Pfarrer über Zuchtstiere reden, er weiss ja nicht einmal, wie ein rechter Sprung geht!“
Für mich war der Laden mit den Jasstischen ein wichtiger gesellschaftlicher Knotenpunkt im Dorf gewesen. In einem Restaurant gingen die Leute rascher ein und aus. Im „Buudeli“ nahm man sich viel länger Zeit zum Reden.
Für unsere Familie war die Situation auch mit Problemen behaftet. Im Verlaufe der Zeit gab es auch Missbräuche: Das Spielen um Geld! In den 40er Jahren hatten die Männer angefangen, um Geld zu spielen und zwar so intensiv, dass sie auch um ein Kalb gespielt hatten. Ein Bauer verlor dann ein ganzes Kalb. Auch während der Bauzeit der Staumauer in Zerfreila wurde im „Buudeli“ wie wild „gebänkelt“(Jassen mit einem Geldeinsatz), bis tief in die Nacht hinein. Das Spielen bis in die späte Nacht hinein störte unser Familienleben, bis es für meine Mutter zu viel wurde. Sie wollte das nicht mehr und verbot das Jassen nach 23.00 Uhr.
Neben diesem Hauptraum im Parterre war da noch die ehemalige Dunkelkammer untergebracht. Sie diente immer schon als Coiffeurraum. Am Samstag war jeweils Coiffeurtag. Leute aus dem Dorf, die eine Haarschere hatten, benützten diesen Raum. Ich erinnere mich noch an Martin Vieli, Stefan Berni und meinen Vater. Übrigens wurde dort auch rasiert. Dieser Coiffeurraum wurde solange benutzt, bis meine Schwester Amalia als gelernte Coiffeuse ihren Damensalon eröffnete. Während dem „Wäärch“ (Kraftwerkbau) erwuchs dem „Buudeli“ Konkurrenz. Der ehemalige Besitzer, Andreas Schnider, übernahm für kurze Zeit das Restaurant Alpenrose und stellte dort den Amateur-Coiffeur „Link“ ein. Diese Konkurrenzsituation konnte dann zur Zufriedenheit aller Beteiligten beigelegt werden.
Einige Zeit später tauchte dann in unserer Familie die Frage der Nachfolge auf. Ich stellte mich auf den Standpunkt, den Laden sollen meine Schwestern übernehmen. Ich war ja Lehrer und brauchte keinen Laden. Dem war aber nicht so. Meine Schwestern interessierten sich nach ihrer Heirat nicht mehr für den Laden. Ich spürte dann einen moralischen Druck, aber wenn schon, dann müsste ihn meine Frau weiterführen. Sie wollte eigentlich nicht, obwohl sie zufällig auch aus einer „Ladenfamilie“ stammte. Nach langem Überlegen willigte sie dann doch ein. Die Öffnungszeiten änderten wir in der Folge radikal. Über die Mittagszeit blieb der Laden konsequent geschlossen. Seit ihrer Pensionierung wurde der Laden umgestaltet zu einer Boutique und verpachtet.